Leserbrief (gekürzt) zu Kunst und Kultur – ein Sonderfall?? in der Neuen Musikzeitung vom Dezember 2020
Genauso wenig wie das Coronavirus unterschätzt werden darf, sollten die verheerenden Auswirkungen mancher Gegenmaßnamen auf unser Kulturleben verharmlost werden.
... Frühere Epidemien führten anders als heute zwar meist zu bedeutenden Investitionen in die öffentliche Daseinsvorsorge, doch von der Bevölkerung wurden sie schnell vergessen und die Menschen widmeten sich wieder (wie alle Säugetiere seit Jahrmillionen) dem permanenten Austausch von Nähe und – von Viren. Mit diesen sind wir auf ewig symbiotisch verbunden und das nicht nur durch das ständige Training unseres Immunsystems. ... Das heißt: Niemand kam „vor Corona" auf die Idee, von einer „neuen Normalität“ zu reden.
Diese wahrlich nagelneue Normalität bedeutet im Kern aber nichts anderes als Digitalisierung und Distanz und steht somit dem Wesen der Musik diametral entgegen. Sie trifft den Beruf – die Berufung – des Musikers ins Mark. Bühnenauftritte sind in Zeiten von YouTube und Spotify für unzählige Musiker die einzige Möglichkeit, mit etwas Glück und sehr viel Fleiß einigermaßen anständig Geld zu verdienen. Das Geschäftsmodell ist, in möglichst ausverkauften Räumen die Menschen unmittelbar zu begeistern und im direkten Austausch aller Anwesenden Musik gemeinsam zu erleben. Wenn‘s gut läuft, gemeinsam glücklich zu sein, wie schon in grauer Vorzeit am Lagerfeuer der Urmenschen, wenn einer seine Knochenflöte hervorholte und die anderen verstummten, um scheinbar sinnfrei zu lauschen. Analog und distanzlos. Das kann pure Magie sein – es ist jedenfalls eines der ältesten Menschheitsrituale überhaupt.
Gerade in unserer kälter werdenden Welt kann die Heilwirkung unserer Musik- und Kulturtradition nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dieses unendlich kostbare Erbe stirbt, wenn es nicht gelebt wird, denn es beruht auf komplexen und sensiblen, über Jahrhunderte gewachsenen – und speziell in Deutschland auf weltweit einzigartigen – Strukturen, die seit dem März 2020 mit jedem weiteren Tag des De-facto-Berufsverbots für Musiker noch mehr beschädigt werden. Denn selbst wenn die Impfstrategie der Regierung ein voller Erfolg sein sollte und die Konzertsäle ab Herbst 2021 wieder uneingeschränkt geöffnet wären, ist es ausgeschlossen, daß der Kulturbetrieb dann einfach wieder anspringt wie eine Jukebox. Hunderte kleine oder mittlere Veranstalter werden bis dahin vermutlich aufgegeben haben. Zigtausende Kinder werden mangels Motivation und Förderung durch Jugendorchester oder Kinderchöre den Einstieg in die Welt des aktiven Musizierens verpasst und sich an das tägliche Daddeln am Bildschirm gewöhnt haben, so wie ihre Eltern an das Zuhausebleiben und Netflix-Gucken. Hunderte von Laienorchestern und -chören wird es dann nicht mehr geben, um nur einige Beispiele zu nennen.
Diese Probleme waren zwar teilweise schon „vor Corona“ virulent, doch das liegt nicht am Wert oder an der zeitlosen Gültigkeit von anspruchsvoller Musik an sich. Auch jenseits einer eurozentrischen Perspektive auf die Kultur sind Werke wie die Erbarme-Dich-Arie aus der Matthäuspassion wichtige Botschaften an die Menschheit. Diese Musik ist heute genauso aktuell wie an dem Tag, als sie das erstemal erklang und ein ebenso essentieller Teil unserer kulturellen (und letztlich menschlichen) DNA wie so mancher Beatles-Song und unzählige andere Werke, die auf diesem Erbe fußen. Um sie verstehen zu können, braucht es aber genau die Übung, die heute verunmöglicht wird. Daher ist es besorgniserregend, wenn Politiker dieses tägliche Üben – unser Kulturleben – mit Fitnessstudios, Bordellen und sonstigem Zeitvertreib in einen Topf werfen.
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Natürlich wird es klassische Musik auch in der „neuen Normalität“ geben. Philantropische Milliardäre werden, wie schon zu Mozarts Zeiten, trotz härtester Auslese hübsch gebliebene Geigerinnen in ihre Privatpaläste einfliegen und vor handverlesenem Publikum aufspielen lassen. Klassik wird noch elitärer als heute sein, Schubert wird sich im Grabe umdrehen. Das zu verhindern ist unsere Verantwortung, denn dieses Menschheitsfeuer darf nicht verlöschen, die durch die Verfassung garantierte Freiheit der Kunst muss jetzt wiederhergestellt werden!