"Wollten Sie immer schon Geigenlehrer werden?"
Aus heiterem Himmel konfrontierte mich eines Tages eine fortgeschrittene Schülerin bei einem Gespräch über Berufswahl mit dieser Frage. Ich war erst mal sprachlos, denn nein, eigentlich wollte ich ja "immer schon" ein berühmter Geiger werden...
Ich will nichts beschönigen: Geigenunterricht ist oft harte Arbeit. Zwar ist Geige spielen genauso (un)natürlich wie Kochen oder Fahrradfahren, gleichzeitig ist es von Beginn an hochkomplex, es locken viele Irrwege. Noch dazu singen Kinder immer weniger, ihre Aufmerksamkeitsspanne sinkt, endloses Wischiwaschi auf digitalen Geräten behindert echtes Be-greifen. Dann noch die stetig steigende Ablenkung durch die Medienflut und die Verbreitung eines geistlosen, am 'Markt' orientierten Bildungsbegriffs. Kinder haben immer seltener ernsthaft musizierende Erwachsene als Vorbilder und immer weniger Eltern entwickeln ein Gefühl für das nötige Gleichgewicht von Führen und Freilassen, bis ihre Kinder freiwillig üben, weil die Geige 'ihr Ding' geworden ist. Ohne regelmäßiges Üben geht es aber nicht, wobei das Wie und nicht das Wieviel entscheidet, ob es sich dabei um eine lästige Pflicht oder eine spannende Entdeckungsreise handelt. Geige lernen macht, wie eine Bergwanderung mit Durststrecken, mitnichten durchgängig 'Spaß'.
Dennoch - nichts ist faszinierender als Lernen!
Das erlebe ich täglich beim eigenen Üben, welches mich fast immer emotional befriedigt, intellektuell herausfordert und mir ein körperliches Vergnügen bereitet. Das war nicht immer so. Zu Beginn als Wunderkind glorifiziert, löste schon in meiner Jugend und besonders während meines Studiums allein der Gedanke an die Geige quälende Verspannungen an Rücken und Schulter aus. Es war eine Sackgasse, aus der ich erst einen Ausweg fand, nachdem ich das Instrument für über ein Jahr weggelegt hatte.
Erst dann hatte ich die nötige Distanz um zu begreifen, daß Lernen eine wesentlich größere Rolle spielt als Begabung. Daß echtes Lernen die Bereitschaft voraussetzt, alle Überzeugungen über richtig oder falsch radikal in Frage zu stellen, um auf bessere Lösungen zu kommen und daß es sogar unbewusste Überzeugungen gibt, die man erst erkennen muss, bevor man sie hinterfragen kann. Echten Fortschritt erkennt man daran, daß Abläufe zuverlässiger, körperlich angenehmer und musikalisch überzeugender werden. Man freut sich auf vormals gefürchtete Passagen, Mühelosigkeit und Wohlbehagen sind die konkreten Ziele.
Heute macht es mich glücklich, wenn ich echtes Lernen bei meinen Schülern einleiten kann, den Schritt tun sie - jeder auf seine individuelle Weise - selber. Andere vor Umwegen zu bewahren oder aus Sackgassen herauszulotsen und vielleicht sogar zu selbstständigem Denken und Forschen hinzuführen, erfüllt mich mit Befriedigung. Wenn ich heute nach meinem Beruf gefragt werde, antworte ich mit "Geiger und Geigenlehrer". Mein wichtigster Schüler bin ich selbst.
Herzlichen Dank an dieser Stelle an Ulrich Voss, dessen Cellounterricht ich in Saarbrücken für mehrere Wochen beiwohnen durfte und entscheidende Einblicke erhielt. An einem einzigen Nachmittag konnte ich dort vom motorisch 'unbegabten' Legastheniker bis hin zum hochbegabten zukünftigen ARD-Preisträger die gesamte Bandbreite der Entwicklungsstufen erleben. Alle wurden von diesem Meister der Didaktik mit demselben pädagogischen Interesse individuell gefördert. Seit dieser Begegnung unterrichte ich auch Kleinkinder, da mir klar wurde, wie wichtig es gerade heute ist, daß die Geige möglichst schon in der Grundschulzeit zum selbstverständlichen Bestandteil des täglichen Lebens wird.